„breathe in the air“[1]

Zum konkreten Atmen in Nicola Staeglichs Arbeiten

Von Larissa Kikol

Abstrakte Malerei ist nicht gleich abstrakte Malerei. Sie bietet als Obergattung sehr unterschiedliche Strömungen und Zweige. Mal entstehen Komposition durch abstrakte und deutlich figurative Elemente, mal sind die Malereien zwar gänzlich abstrakt, erinnern aber an Landschaften, Architekturen oder erfundene Wesen. Dann gibt es Fälle, da werden einzelne reduzierte, abstrakte Elemente eingesetzt, die Bezüge zu Konzeptkunst oder zur Minimal Art herstellen. Und schließlich findet man andere abstrakte Bilder, die eigentlich alles, was außerhalb von ihnen steht, als Interpretation abweisen, aber dafür ihr reines Wesen an Farbe, Formen und Licht in die Welt abstrahlen. Dieses ist der Fall bei Nicola Staeglich. Wenn die Farbe für die Farbe steht, dann ist eine theoretische Einordnung angesagt. Ist ihre Malerei überhaupt abstrakt oder schon wieder ganz konkret? Oder ist diese besondere Malerei auf Acrylglas eine räumliche Abstraktion?

Beim Betrachten fühlt man sich bereits in einem veränderten Raum. Denn die physische Präsenz ihrer Bilder ist nicht auf den physischen Objektträger beschränkt. Ähnlich, wie eine Fortführung des Pink Floyd Covers The Dark Side of the Moon, in dem Farbbahnen sich an einem Prisma im Universum brechen, nur dass sie jetzt hier in Gänze und in Unabhängigkeit schweben. Staeglichs Arbeiten evozieren ein räumliches Licht-Farben-Gefühl, das auf angenehme Weise präsent ist, ohne zu laut zu werden. In diesen Eigenschaften sind Staeglichs Arbeiten besonders stark. In ihrer Anwesenheit, die keinen Egozentrismus beinhaltet. In ihrer Strahlkraft, ohne dass sie aufdringlich werden. In ihrer Anziehungskraft, ohne dass sie zu dick auftragen. 

Mit dieser Ausstrahlung eröffnen die Glasmalereien von Nicola Staeglich Räume. Durch die Semitransparenz des Farbauftrags auf den Glasträgern strahlt das farbgetauchte Licht zu allen Seiten ab, nach vorne und nach hinten auf die Wand. Auch durch einen nahen Blick der seitlich auf das Bild fällt, öffnet sich das Objekt des Glasträgers mit seinem Zwischenraum und seiner Spiegelung als multiple Dimension und als architektonische Tiefe. 

Heute sehen wir vor allem das, was laut schreit. Durch Schlagzeilen, durch provokante Fotos, durch herausstechende Eye-Catcher in der Komposition, die vor allem in der quadratischen Miniaturansicht von Instagram perfekt funktionieren. Staeglichs Arbeiten sind keine visuellen Schlagzeilen, auch eignen sie sich weniger als schnelles Bildspektakel in den sozialen Medien. Und genau das macht sie auf ihre Weise so anziehend. Sie entschleunigen in unserer überreizten Zeit. Sie beruhigen in einer sich überwerfenden Kommunikationsgesellschaft, die ständig in Konkurrenz um rezeptive Anspannung steht. Die Glasmalerei von Staeglich impliziert Zeit, ein Herunter-Kommen, ein Durchatmen, und gerade dann fühlt man das Lodern einer Intensität in ihnen.

Das Licht war auch ein entscheidendes Motiv und Untersuchungsobjekt der Impressionisten. Lichtdurchbrüche, Spiegelungen und vor allem Lichtspiele zwischen und auf den Blättern der Bäume, auf Wiesen, festlichen Kleidern oder Wasseroberflächen wurden durch kleine, kurze und dicht aufgetragene Pinselstriche kreiert. Nicola Staeglichs Pinsel sind Sonderanfertigungen, weil sie extra breit sind, bis zu 80 cm. Das Gegenteil der impressionistischen Pinsel. Das Interesse an Licht und an lichtabgebenden Bildern teilen sie aber. Staeglich bereitet ihre Pinsel vor, in dem sie die Farbmassen nicht nur auf ihnen aufträgt, sondern auch die Farbverläufe bereits auf den Pinselhaaren präpariert. Dann streicht sie mit ihnen über die Glasfläche. Choreografisch werden Mittel der Einflussnahme wie der Druck auf den Pinsel, sein Innehalten, die Schnelligkeit oder eben die Langsamkeit eingesetzt, um Strukturen, bzw. die Farb-Licht-Bildräume zu konstruieren. So festigt sich der Takt eines jeden Bildes. Bewunderten die Impressionisten aber auch die neue, moderne Schnelligkeit, so tragen Staeglichs Arbeiten und ihre Rezeption zur Entschleunigung bei. Nicht der schnelle Seheindruck wird bedient, sondern der gesetzte, der geduldige.

Die zweite Werkserie entsteht halbtransparenten Folien; im Gegensatz zum Glas, bleibt die Farbe hier matt. Ohne das Abstrahlen also, und ohne die räumlichen Spiegelungen, verstärken sie wiederum das Fließende, aber auch das Innehalten des Pinsels. Wie eine Vinylplatte, deren Rillen die Lieder trennen. Deutlich kann der Betrachter den Farbträgern beider Serien die Bewegungen und Pinselbreiten nachvollziehen. Da das Glas keine Farbe aufsaugt, wie eine Leinwand, sondern jeder Auftrag in seiner, auch getrocknet noch nass wirkenden Struktur erhalten bleibt, konserviert sich der Arbeitsprozess als transparente Bewegung und als Lenkung des Farblichtes. Die Bilder formieren sich immer wieder neu, auch je nach Standpunkt des Betrachters. 

Zwischen den Pinselspuren bleiben Lücken, hier atmen die Bilder besonders stark. Freiraum herrscht aber überall, auch da, wo die Farbe durchgezogen wurde. An ihren Rändern ergeben sich durch die Pinselhaare kurze Spuren und Sprenkel, die an expressionistische Gesten erinnern. Zwar stammen sie nicht direkt von einem kleinen gestischen Pinselstrich ab, jedoch aber von Stäglichs Umgang mit dem Werkzeug, dem Druck, der Bewegungsrichtung, dem Tempo. So zeugen diese Spuren nicht nur von der Präsenz der Künstlerin, sondern auch von den direkten Reaktionen der Farbmaterie. Die abstrakte, konkrete Malerei von Staeglich ist weniger eine Farbfeldmalerei, denn diese betonte stets die Oberfläche, die Zweidimensionalität. Staeglichs Malerei erweitert die Farbfeldmalerei, sie schwebt, interagiert mit Licht und Raum und spielt Dimensionen aus, die wahr und unwahr sein können. Was ist Teil des physischen Körpers, also des Acrylglasgegenstands und der Farbmaterie? Was taucht als Spiegelung, als Schatten und als illusionistischer Raum auf? Es ist nicht nötig dieses auseinanderzuhalten. In der sinnlichen Rezeption von Staeglichs Arbeiten ist die Wahrheit einzig der Realität des Farbraums verpflichtet. 

 

[1] Pink Floyd, zitiert aus Song: Breathe, aus dem Album: The Dark Side of the Moon, 1973

 

“breathe in the air“[1]

On Concrete Breathing in the Works of Nicola Staeglich

Larissa Kikol

“Abstract painting” is an ambiguous term. As a general heading, it offers a variety of different tendencies and branches. Sometimes compositions are made up of both abstract and clearly figurative elements, sometimes the paintings are completely abstract but are reminiscent of landscapes, architecture, or imaginary creatures. Then there are cases where individual reduced, abstract elements are used, creating references to conceptual or minimal art. Finally, there are other abstract paintings that actually reject anything outside of them as an interpretation, instead radiating their pure essence of color, form, and light into the world. This is the case with Nicola Staeglich. If color stands for color, then a theoretical classification is called for. Is her painting abstract at all, or is it completely concrete? Or is this particular painting on acrylic glass a spatial abstraction?

Looking at her works, one already feels as if one is in an altered space. For the physical presence of her paintings is not limited to the physical object support. Like a continuation of the cover of Pink Floyd’s album The Dark Side of the Moon, in which colored lines on a prism break out into the universe, only now they are here in their entirety and autonomy. Staeglich’s works evoke a spatial sense of light and color that is pleasantly present without being too loud. Her works are particularly strong in these qualities: in their presence, which contains no egocentrism; in their radiance, without being obtrusive; in their power of attraction without being too overbearing. 

Nicola Staeglich’s acrylic glass paintings open up spaces with this radiance.  Due to the semi-transparency of the paint applied to the acrylic glass support, the color-dipped light radiates to all sides, to the front and back of the wall. Even a close-up view of the painting from the side opens up the object of the acrylic glass support with its interstices and reflections as a multiple dimension and as architectural depth. 

Today, we mostly see what shouts out loud. Through headlines, through provocative photographs, through eye-catching compositions that work perfectly, especially in the square thumbnail view of Instagram. Staeglich’s works are not visual headlines, nor do they lend themselves to a quick visual spectacle on social media. And this is precisely what makes them so appealing in their own way. They slow us down in our overstimulated times. They calm us down in a communication society constantly competing for receptive tension. Staeglich’s acrylic glass paintings imply time, slowing down, taking a deep breath, and that is when you feel the blaze of intensity in them.

Light was also a decisive motif and object of study for the Impressionists. Breakthroughs of light, reflections, and above all the play of light between and on the leaves of trees, on meadows, on festive dresses, or on the surface of water were created with small, short, and densely applied brushstrokes. Nicola Staeglich’s brushes are custom-made to be extra wide, up to 80 cm—the opposite of the Impressionists’ brushes. However, Staeglich and the Impressionists share an interest in light and luminous images. Staeglich prepares her brushes by not only applying the paint masses to them, but also by preparing the color gradients on the brush hairs. She then strokes them across the surface of the acrylic glass. Means of manipulation such as pressure on the brush, pauses, speed, or even slowness are used choreographically to build structures or color-light-image spaces. This consolidates the rhythm of each painting. While the Impressionists admired the new, modern speed, Staeglich’s works and their reception contribute to deceleration. It is not the quick visual impression that is served, but rather the sedate, the patient. 

The second series of works is created using semi-transparent films; unlike the acrylic glass, here the paint remains matte. Without the radiation, and without the spatial reflections, they again emphasize the fluidity, but also the pause of the brush. Like a vinyl record whose grooves separate the songs. In both series, the viewer can clearly follow the movements and widths of the brushes. Since the acrylic glass does not absorb paint, like a canvas, but each application is preserved in its structure, which still appears wet even when dry, the working process is preserved as a transparent movement and as a guide for the colored light. The paintings are constantly reforming, depending on the position of the viewer.

Gaps remain between the brushstrokes, where the paintings breathe particularly strongly. But there is also free space everywhere, even where the paint has been drawn through. At the edges, the hairs of the brush create short traces and speckles reminiscent of expressionist gestures. Although they do not result directly from a small gestural brushstroke, they are the result of Stäglich’s handling of the tool, the pressure, the direction of movement, and the speed. These traces testify not only to the artist’s presence, but also to the immediate reactions of the paint as a material. Staeglich’s abstract, concrete painting is less a form of color field painting, which always emphasizes the surface, the two-dimensionality. Her painting extends color field painting, it floats, interacts with light and space, and plays out dimensions that can be true and untrue. What is part of the physical body, i.e., the acrylic glass object and the paint? What appears as a reflection, as a shadow, and as an illusionistic space? There is no need to distinguish between them. In the sensual reception of Staeglich’s works, the truth is committed solely to the reality of the color space. 

 

[1] Pink Floyd, quoted from the song “Breathe,” from the album The Dark Side of the Moon, 1973.

(Translation: Gérard Goodrow)