Stephan Berg
DAS BILD ALS ÜBERGANGSERFAHRUNG
Man müsse sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will, weil alles verschwinde behauptete Paul Cézanne. Für Nicola Staeglich und ihre großen Werkblöcke der transparencies (seit 2003) und der liquid lights (seit 2019) gilt das Gegenteil. Je langsamer man sich ihnen nähert, umso mehr geben sie preis. Die Künstlerin hat ihr Werk, ausgehend von klassischer Farbmalerei und Ausflügen in das Skulpturale und Objekthafte, bis heute konsequent weiterentwickelt und mittlerweile in eine ebenso subtile wie wirkmächtige räumliche Lichtmalerei verwandelt.
Grundlage für diesen transformatorischen Prozess ist bei beiden oben erwähnten Werkgruppen der bewusste Verzicht auf die Leinwand als Bildträger und die Entscheidung für Acrylglas (transparencies) und semitransparente matte Polyesterfolien (liquid lights). In beiden Fällen ist die Versuchsanordnung so transparent angelegt, wie nur möglich und folgt dabei einer jederzeit nachvollziehbaren performativen und prozessualen Logik. Nicola Staeglich tariert zunächst das richtige Verhältnis zwischen Farbe und Flüssigkeit aus, verteilt diese anschließend auf bis zu 80 Zentimeter breite, zum Teil spezialangefertigte Pinsel und zieht den Pinsel dann – befestigt an einem langen Stiel – vertikal oder horizontal über die Acrylglas- oder Folien-Oberfläche. Häufig wird dieser Vorgang mit derselben oder mit anderen Farben wiederholt, sodass durch die Staffelung des Farbauftrags die Illusion mehrerer übereinander geschichteter Bilder entsteht. In anderen Fällen bleibt es bei einer einzelnen Malbewegung. Immer aber ist alles, was die Malerin und die Farbe auf der Bildfläche getan haben bis ins letzte Detail ablesbar: Das An- und Absetzen des breiten Pinsels, die im Verlauf der gezogenen Bahn blasser und spurenhaft werdende Farbe, die seitlichen Ränder mit ihren Farbverdickungen oder auch die bisweilen gegen den Strich verlaufende Pinselbewegung. Für die transparencies erfolgt der Farbauftrag jeweils auf der Rückseite des Acrylglases, das dann mit einem bestimmten Abstand zur Wand installiert wird. In der Werkgruppe der liquid lights arbeitet die Künstlerin in der Regel mit mehreren, sich locker überlappenden Folien, die frei im Raum gehängt werden - und damit sowohl die Vorder- wie die Rückseite der Farbe zeigen - oder an der Wand hängend in den Boden auslaufen.
Ganz deutlich ist dies eine Untersuchung zu den elementaren Grundlagen der Malerei. Zum Einsatz kommen dabei nur die beiden grundsätzlichen Konstituenten eines Bildes: Der Träger und die Farbe, und dies jeweils in einer dialektischen Form. Das transparente Acrylglas oder die dünnen Folien, die als Bildträger verwendet werden, dekonstruieren und entkörpern diesen ebenso ein Stück weit, wie sie ihn gleichzeitig benötigen. Ebenso zeigt sich der Malakt in einer ambivalenten Form: als einzelne oder multiple Malspur dokumentiert sie den Auftrag der Farbe ebenso, wie ihr allmähliches Verlöschen, und macht zudem noch die Zeitspanne sichtbar, die zwischen Beginn und Ende der Malhandlung lag. Insofern werden diese Bildformulierungen auch zu Zeitspeichern, in denen die Mal-Zeit und die Betrachtungs-Zeit auf paradoxe Art zusammengeführt werden. Dabei steht die Geschwindigkeit, die sich in der Malbewegung ausdrückt gewissermaßen in einem umgekehrten Verhältnis zur notwendigen Intensität der Betrachtung.
Wie bei allen konsequenten Versuchsanordnungen ist auch bei dieser ihre Einfachheit und Ablesbarkeit die Bedingung für die Vielschichtigkeit, die daraus erwächst. Das beginnt bei der oben bereits erwähnten Tatsache, dass der Farbauftrag auf den transparencies nicht auf der Glasoberfläche, sondern auf der Rückseite erfolgt. So sehen wir nicht die tatsächliche materielle Farbe, sondern ihr durch die Acrylplatte durchscheinendes Bild, das zusätzlich noch als Farbschatten an der Wand hinter der Scheibe ein zweites geisterhaftes Wiedergänger-Dasein behauptet und der Malerei etwas Schwebendes vermittelt. Während wir diesen entmaterialisierten Ableitungen der Farbbewegung folgen, entdecken wir zudem, dass sich der Betrachter bei dem Versuch der Malerei auf die Spur zu kommen ebenso in der Scheibe spiegelt, wie das in der Farbe eingebettete Licht. Dieses Farblicht wiederum aktiviert die in dem Raum zwischen Acrylglasplatte und Wand (wie eine Laborprobe unter einem Glasträger) eingebettete Pinselpur in einer Weise, dass sie, ähnlich wie in einem Belichtungsverfahren quasi fotografisch durchleuchtet wirkt. Dabei verliert sie jegliche körperliche Dichte zugunsten einer phantomhaften, nicht zu greifenden, aber räumlich wirksamen Ephemerität. Ähnliches ist auch in der Werkfolge der liquid lights zu beobachten. In den Schichtungen des matten, transluzenten Materials der überlappenden Polyesterpapiere überlagern sich die Pinselbahnen zu einer vibrierenden Farbschichtung, die zwischen einer sensuellen, nie vollständig realisierten Körperlichkeit und einem entkörperten Farblicht-Echo balanciert.
In einem Gespräch mit Jette Rudolph hat Nicola Staeglich bestimmte Aspekte ihrer Malerei mit der Erfahrung des Rückenkraulens verglichen: „Mit den kreisenden Bewegungen der Arme durch die Luft nach hinten ins Wasser und dem Paddeln der Füße bewege ich mich in einer Rückwärtsbewegung in einen Raum fort, der nicht kontrollierbar ist“ (1) Tatsächlich ist das eine der verblüffendsten Erfahrungen, die man mit diesem Werk machen kann: Dass es Bildräume erzeugt, die sich nie komplett fixieren lassen. Die feinen Lineaturen der einzelnen Pinselhaare erzeugen ein konstantes Flimmern, gewissermaßen eine scharf gestellte Unschärfe. Das Raumgreifende und Räumliche schlägt stets auch wieder ins Bildhaft-Flächige um und umgekehrt. Anwesenheit verknüpft sich mit latenter Abwesenheit. Die Sehnsucht nach Fokussierung verschmilzt mit der Tendenz zur Auflösung. Das Feste wird flüssig und das Flüssige wandelt sich zu einer Erfahrung momentaner Formfindung, in der die Qualität eines Ereignisses, einer punktuellen, überraschenden Farblicht-Epiphanie aufscheint. Alles auf diesen Bildern bewegt sich zwischen den Polen der Kontingenz und der Emergenz und findet seinen Ort in einer konstanten strukturellen „Bewegungstendenz“ (2), die das Bild und seine Wirklichkeit als permanente Übergangserfahrung beschreibt.
Anmerkungen:
- Nicola Staeglich: Color Light Matter Mind, Berlin 2022, S.80.
- S.80.
Stephan Berg
THE PAINTING AS A TRANSITIONAL EXPERIENCE
“You have to hurry up if you want to see something, everything disappears,” Paul Cézanne claimed. The opposite is true for Nicola Staeglich and her large series of transparencies (since 2003) and liquid lights (since 2019). The slower you approach them, the more they reveal. Beginning with classical color painting and excursions into the sculptural and object-like, the artist has consistently developed her work to the present day, transforming it into a spatial light painting that is as subtle as it is powerful.
The basis for this transformative process in both of the above-mentioned groups of works is the deliberate abandonment of the canvas as an support and the decision to use acrylic glass (transparencies) and semi-transparent, matte polyester film (liquid lights). In both cases, the experimental arrangement is designed to be as transparent as possible and follows a performative and procedural logic that is always comprehensible. Nicola Staeglich first calculates the correct ratio of paint to liquid, then distributes this mixture on brushes up to eighty centimeters wide, some of which are specially made, and then draws the brush, attached to a long handle, vertically or horizontally across the surface of the acrylic glass or polyester film. This process is often repeated with the same or different colors, so that the staggered application of paint creates the illusion of multiple images layered on top of each other. In other cases, it remains a single painterly gesture. However, everything that the painter and the paint have done on the surface of the canvas can always be read down to the last detail: the application and removal of the broad brush, the color that becomes fainter and more trace-like as the path is drawn, the side edges with their thickening of paint, or even the movement of the brush, which sometimes runs against the stroke. For the transparencies, the paint is applied to the back of the acrylic glass, which is then installed at a certain distance from the wall. In the group of works titled liquid lights, the artist usually works with several loosely overlapping polyester films that hang freely in the exhibition space—showing both the front and back of the painted surface—or, when hanging on the wall, run out onto the floor.
This is clearly an investigation into the elementary foundations of painting. Only the two basic components of a painting are used: the support and the paint, each in a dialectical form. The transparent acrylic glass or the thin polyester film used as a support deconstruct and disembody it to a certain extent, as much as they require it at the same time. The act of painting also appears in an ambivalent form: As a single or multiple trace of painting, it documents the application of the paint as well as its gradual fading, and also makes visible the time that elapsed between the beginning and the end of the painting process. In this respect, these pictorial formulations also become memories of time, in which the time of painting and the time of viewing are paradoxically brought together. The speed expressed in the painting movement is, so to speak, in inverse proportion to the necessary intensity of observation.
As with all coherent experimental arrangements, the simplicity and legibility of this one is the precondition for the complexity that results from it. This begins with the aforementioned fact that the color in the transparencies is not applied to the front of the acrylic glass, but to the back. Thus, we do not see the actual material paint, but rather its image shining through the acrylic glass, which additionally asserts a second ghostly existence as a colored shadow on the wall behind, giving the painting a floating quality. As we follow these dematerialized derivations of the movement of the paint, we also discover that in trying to understand the painting, the viewer is reflected in the pane in the same way as the light embedded in the paint. This colored light, in turn, activates the brushstroke embedded in the space between the acrylic glass and the wall (like a laboratory specimen under a glass support) in such a way that it appears to be photographically illuminated, similar to an exposure process. It loses all physical density in favor of a phantom-like, intangible, but spatially effective ephemerality. A similar effect can be observed in the series of liquid lights. In the layers of the matte, translucent material of the overlapping polyester films, the brushstrokes overlap to form a vibrating layer of paint that balances between a sensual, never fully realized physicality and a disembodied echo of colored light.
In a conversation with Jette Rudolph, Nicola Staeglich compared certain aspects of her painting to the experience of swimming the backstroke: “With the circular movements of the arms through the air backwards into the water and the paddling of the feet, I move forward in a backward motion into a space that cannot be controlled.”[1] In fact, this is one of the most amazing experiences one can have with this work: that it creates pictorial spaces that can never be fully fixed. The fine lines of the individual brushstrokes create a constant flickering, a kind of sharply focused blur. The expansive and spatial always turns back into the pictorial and two-dimensional and vice versa. Presence is combined with latent absence. The desire for focus merges with the tendency to dissolve. The solid becomes fluid, and the fluid becomes an experience of momentary form-finding, in which the quality of an event, a punctual, surprising epiphany of colored light appears. Everything in these paintings oscillates between the poles of contingency and emergence, finding its place in a constant structural “movement tendency”[2] that describes the painting and its reality as a permanent transitional experience.
[1] Nicola Staeglich: Color Light Matter Mind, ed. FeldbuschWiesnerRudolph (Berlin 2022), p. 8. [bitte durch das Originalzitat aus dem Buch ersetzen]
[2] Ibid., p. 80. [s.o.]
Translation: Gérard Goodrow